Atelier Rita Simon


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Kursarbeiten

und noch...

Der flatterbaum
Das bild auf dem foto intrigiert mich: ein teil seiner wurzeln hängen ins leere. Wohl ist ein teil des hangs, an dem er wächst, abgerutscht und hat den halben wurzelstock freigelegt. Es sieht so aus, wie wenn das bäumchen nun tastend nach halt suchte - wie ich.
Im traum sehe ich das bäumchen vor mir. Es scheint zu schweben; der halt am abgerutschen boden ist kaum genügend. Es wird flügel brauchen, um zu überleben. Wo nehme ich flügel für die in der luft baumelnden wurzeln her. Daunen, vom kopfkissen, kommt mir im halbschlaf in den sinn. Und noch immer halb im traum streife ich die überzüge von meinem kissen und fange an, kleine federchen aus den nähten zu zupfen. Die lege ich sorgfältig auf ein taschentuch, bis ich genug federn für das bäumchen habe. Dann stopfe ich das gerupfte kopfkissen wieder in seine hüllen, Weil das recht mühsam ist, bin ich nun voll wach. Und im meinem kopf dichtet es bereits.
Ich ziehe mir wollsocken über die füsse, schlüpfe in meine warme jacke, richte mir ein nächtliches picnic, bestehend aus einem apfel, zwei, drei biscuits, einem täfelchen schololade zu, und fange an, die biografie des flatterbaums zu schreiben:
Meine eltern wanderten, ende des zweiten kriegsjahres aus. Sie gruben mich, das kleine bäumchen, mitsamt den wurzeln aus und vefrachteten es, zusammen mit den drei überseekoffern, auf ein schiff nach Rio de Janeiro. Das bäumchen hat nie mehr richtig wurzeln geschlagen. Immer wieder, wenn es begonnen hatte, in einem neuen erdballen sich festzuklammern, wurde es einmal mehr, und nocheinmal, vom wirbelsturm des lebens erfasst und umgetopft: zurück in die Schweiz, in Anatolien, dann wieder in Brasilien, und nochmals in Brasilien und erneut hierzulande und ein drittes mal jenseits des ozeans, dann schliesslich und endgültig in der alten heimat - nicht weit von meiner geburtsstätte.
Es muss sich luftwurzeln zugelegt haben. Die reckte es in alle windrichtungen, vom fernweh verweht, vom heimweh gezogen, hin und her. Doch von luft und liebe allein überlebt man nicht, vor allem, wenn die liebe dünner wird als die luft. Irgendwoher muss auch richtige nahrung kommen. Jedenfalls, der baum starb nicht ab, welkte nicht, gedieh trotz allem und trug sogar früchte. Oder eben: er lernte mit der zeit, anstatt am boden sich festzukrallen, über dem boden zu flattern: träumend, fantasierend, staunend, schreibend, dichtend.
Ich habe im schlaf aus meinem kissen federchen gezupft, meinen losen wurzeln flügel gegeben. Und nun:

Mit flatterwurzeln
Wie steh ich da?
Ein kopf - das wär die krone,
ein leib - der stamm, die äste,
doch scheint's mir, ohne füss,
die auf der erde ständen;
nur wurzeln, die unstetig
flattern mit dem wind.
Wie lange fühler recken
sie sich in alle welten
und sehnen sich nach halt.
Sie fliegen über meere
und über berge, wüsten
und übern regenwald.
Doch glaube ich zu ahnen,
dass ich, statt feste wurzeln
zwei starke flügel hab.

WER BIN ICH - WAS BIN ICH
Ein Beschrieb zur Bearbeitung des Themas Selbstdarstellung

Ich bin jetzt in einem alter, da man sein leben vom ende her betrachtet. (Dieser satz stammt nicht von mir - von wem ich ihn geklaut habe, weiss ich nicht.) Es ist aber nicht so, dass ich bloss noch von erinnerungen, von rückblicken lebe. Aber ich frage mich: was ist noch möglich in der zeit, die mir noch bleibt? Ich sehe mich als summe, als endresultat. Und ich frage mich: hätte ich eine andere werden können, als die, die ich geworden bin? So, wie der alternde Gregorius im buch, das ich gerade lese (Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon): "Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist, was geschieht mit dem Rest?" Oder wie Marc Aurel, den Gregorius zitiert: "Denn ein Leben nur, ein einziges, hat jeder. Es ist aber für dich fast abgelaufen, und du hast in ihm keine Rücksicht auf dich selbst genommen. ..." Das macht mich nicht, wie der alte römer sagt, unglücklich, aber doch nicht so ganz zufrieden. Zum nachholen ist es jetzt reichlich spät. Trotzdem frage ich mich: was bin ich, und wenn nicht, warum?

Finde ich die antwort in meinen gesichtszügen? In meinem blick, in diesem angedeutenden lächeln, in den furchen, die das leben gegraben hat? Nein, eigentlich nicht, meine ich: mein gesicht sagt mir nichts, fast nichts, über das, was ich bin, und gar nichts über das, was ich auch sein könnte. Meinte ich, jedenfalls. Das möchte ich eher in ein leeres gesicht, das einer schaufensterpuppe vielleicht, hineinprojezieren. Oder am ende doch in mein profil, im schattenriss? Ein versuch ist es wert: Ich zeichne das profil einer alten frau in das unbeschriebene gesicht der schaufensterbüste. Und plötzlich kommt ein zwiegespräch zustande. Die beiden fangen an, sich zu erzählen, das gelebte dem un-gelebten, und umgekehrt.
Ich erzähle von meinem dasein als frau, als mutter (da erscheint mir die figur der URMUTTER), als tochter und ehefrau (die LASTENTRÄGERIN), von meinen träumen (vom garten hinter der mauer, zum beispiel, und dem brunnen, aus dem eine wundersame musik steigt, oder vom grossen fisch, den ich, irgendwann einmal, doch noch einfangen möchte), vom raum, den ich mir geschafft habe (und mir so lang wie möglich noch erhalten möchte, vom licht, das ich so sehr brauche (und vom kupferteller an der wand, der mir die abendsonne in die stube holt), von den büchern, ohne die ich nicht sein kann, den vögeln, die ich ein ganzes leben lang gesammelt habe. Ich erzähle von den freunden, die um mich sind und mich warm und lebendig halten, auch von denen, die noch da, aber nicht mehr fassbar sind. Von der welt dort draussen, wo ein anderes als das ich von heute einst gelebt hat. Von der vision von
UMBRUCH / AUFBRUCH / AUSBRUCH (die ich mir zum achtzigsten geburtstag malte). Ich erzähle vom altsein, müdesein, alleinsein...
Und dabei kommt mir das gedicht in den sinn, das mir neulich eingefallen ist:
Du, alte frau,
leg deine hände in den schoss
du hast genug getan
setz dich beim fenster auf den stuhl
schau, wie es blüht im gartenbeet
du hast es gut gehegt
leg deine hände in den schoss,
du, alte frau
sie haben es verdient.

Die hände in den schoss legen. Meine hände. So wie sie sind, wenn sie ruhen, wenn die arbeit getan ist, wenn haus und garten besorgt sind. Was immer ich auch bin: es werden immer meine hände sein.

( EPILOG:
... auch wenn ich, zum beispiel, die Queen wäre -gibt es da wirklich eine entfernte ähnlichkeit? Nun, die Queen ist auch alt, sogar ein wenig älter als ich, und gewiss auch manchmal müde. Und das angedeutete lächeln ...?
Also, Your Majesty, bleib "HAPPY and GLORIOUS",aber setz dich aufs bänklein, leg hut und krone neben dich, zieh warme socken an, und leg deine hände in den schoss...
Wir haben's beide wohl verdient.)

Heide, Breno, Mai 2013


Buchbearbeitung

Ein Buch, das mir lieb ist, und das ich bearbeiten kann...
Das war die Ausgangslage.
Das ist nicht so einfach: ein Buch, das mir lieb ist, kann ich doch nicht "bearbeiten" - das bedeutet doch wohl, es zu irgendeinem Zweck zu gebrauchen, bemalen vielleicht, oder zerstückeln, etwas basteln damit, was weiss ich.
Doch da kommt mir der Zufall zu Hilfe. Ich besitze ein paar Bücher im Doppel, darunter auch eines, das mir besonders lieb ist: Hemingways "The Old Man and the Sea". Somit wären beide Bedingungen erfüllt: ein Buch zum Bearbeiten, das andere aber bleibt mir erhalten.
Und so trete ich an mit meinem Büchlein. Ohne die geringste Ahnung, was damit geschehen soll. Ohne Plan, ohne Vorbereitung.
Die Arbeitsplätze stehen bereit: mit Plastik abgedeckte Tische, Papier, Farben und sonstiges Material.
Der Balkon mit Sicht auf das Gässchen und die gegenüberliegenden Häuser gefällt mir besser. Ich setze mich auf das niedrige Bänklein in der Fensternische, mehr Platz brauche ich vorerst nicht. Denn zuerst drängt sich die Zwiesprache mit dem Buch auf. Die kleine Illustration auf dem Buchdeckel: der Mann im Boot und der grosse Fisch. DER ALTE MANN UND DAS MEER.
Der Mann ist alt. Auch ich bin alt. Könnte es auch heissen: die alte frau und das Meer? Meldet sich da meine Sehnsucht, noch einmal das Meer zu sehen? Nein, darum geht es nicht, es geht um das "und", und eigentlich geht es auch um den Fisch: DIE ALTE FRAU UND DER FISCH, also.
Das Thema wäre damit gefunden: ICH UND DER FISCH, und ich mache mich auf die Suche. Im Text. In meinem Leben.
Ein Bild hat, seit meinen jungen Jahren, die Erwartungen an mein Leben geprägt: der Fischer, der sein Netz auswirft und es dann mit gutem Fang hochzieht. So, wie ich ihn sah, in Ägypten im Nildelta, in Brasilien in der Laguna von Araruama, in Namibia beim Kunene. Diese Erinnerungen schreibe ich auf ein Blatt Papier, das ich an eine der ersten Seiten des Buchs hefte, dort, wo ich mit Bleistift den Fischer skizziert habe. In der Geschichte ist es zwar kein prallvolles Netz - sein Wurfnetz hat der alte Mann vor langer Zeit schon verkaufen müssen, sein Fang hier ist ein einziger grosser Fisch -; für mich aber ist das Netz von Bedeutung.
Ich gehe auf Materialiensuche. Unten im Atelier finde ich, was ich brauche: ein Netz aus feinem, gelben Plastik, eine blauschimmernde Kordel, die zu Fischen geschnipselt werden kann, einen dicken, rötlichen Wollfaden, mit dem ich den Fisch anbinden kann. Im nu habe ich dem alten Mann, den ich nicht kenne, der aber auch ich sein könnte, ein Seil für den Fisch an die Hand geleimt, für mich ein gelbes plastiknetz prall mit glitzernden Fischen gefüllt und es ebenfalls zwischen die Buchseiten geklebt. Nun geht das Buch aber nicht mehr zu. Es muss Raum geschaffen werden für den reichen Fang. Das heisst, ich muss ein genügend grosses und tiefes Loch in die Buchseiten reissen.
Doch Achtung: dabei können wertvolle Textstellen abhandenkommen; die muss ich zuerst auffinden, und retten - also lesen, lesen, rot markieren, auf die Seitenränder übertragen. Und in der Mitte, das Loch. Eine gute Hälfte des Buchs wird so zerschlissen. Wie kann ich nur? Ich, die es kaum fertig bringt, ein Buch wegzuwerfen, zu "entsorgen", ich, der es wehtut, wenn ein Buch im Regen oder an der Sonne zu Schaden kommt? Und jetzt mache ich ein buch kaputt...
Merkwürdig: das Loch in meinem Buch tut nicht weh. Ganz im Gegenteil, es tut wohl, richtig wohl. Ich schaffe Raum. Das erleichtert, das gibt Hoffnung, das macht Mut. Der alte Mann sagt: "Mein grosser Fisch muss irgendwo sein."
Selber habe ich mir immer und immer wieder gesagt: irgendwann muss dir doch ein richtig grosser Fang gelingen". Bis jetzt, allerdings, zappelte kaum mehr als ein kleines Fischlein in meinem Netz. Bei diesem Gedanken sehe ich vor mir zwei meiner Tonfiguren, die zuhause im Regal stehen, die beiden Fischer, der eine zufrieden, strahlend, mit dem grossen Fisch über Schulter und Rücken, der andere, enttäuscht, verzweifelt, mit dem winzigen Fischchen, das an seiner Angelschnur baumelt. Schnell schnipsle ich ein paar Minifischlein und fixiere sie in kleinen Netzen zwischen zwei durchsichtigen Folien und klebe den mageren Fang, als Gegenpart zum prallen Netz, in den ausgesparten Raum.

Dann, auf Seite 60, fast genau in der Mitte des Buchs, fängt, endlich und tatsächlich, der alte Mann den riesengrossen Fisch. Den Fisch in der Illustration auf dem Buchdeckel vergrössere ich bis fast zu den Rändern der Buchseiten, male ihn an, purpurfarben, wie im Text beschrieben, schneide ihn aus und mache ihn fest am Seil, das der alte Mann auf Seite 6 in seiner Hand festhält. Der geschaffene Durchbruch von Seite 6 bis Seite 60 gibt den Blick frei auf den spektakulären Fang.
Nun aber beginnt der lange Kampf zwischen Mann und Fisch. Der grosse Fisch zieht das Boot mit dem Mann drei Tage und drei Nächte lang durchs Meer. Der Mann lässt sich ziehen. Er wartet; einmal wird der Fisch müde werden. Auch ich warte. Ich lasse mich treiben; ich erfahre, Seite um Seite, was mit uns geschieht, mit mir und dem grossen Fang. "Der Fisch ist auch mein Freund", sagt der alte Mann. "Der Fisch bin ich", sage ich. Anders gesagt: der Fisch ist mein Leben. Die Geschichte vom alten Mann und dem Meer wird zu meiner Biographie.

Dem Mann gelingt es schliesslich, den müde gewordenen Fisch zu erlegen und an sein Boot zu binden: nun sind sie aneinander gefesselt, das Boot, der Mann, der Fisch. Ich und mein Fatum.
Und dann, die Haie. Sie haben die leichte Beute gerochen; Stück für Stück reissen sie aus dem herrlichen, grossen Fisch. Der Mann muss zusehen, gegen die Räuber ist er machtlos. Er ist müde, erschöpft, hungrig, am Verdursten.
Auch ich fühle mich müde, erschöpft, auch ich bräuchte Stärkung, Nahrung, Labung. Ein innerer Film läuft ab: der grosse Fang, auf den ich immer hoffte, und der vielleicht doch einmal hätte gelingen können, wird Stück für stück weggefressen - Speise, Nahrung, Labung für andere.
Ich sitze auf meinem Bänklein und denke nach. Der alte Mann kehrt endlich in den Hafen zurück. Festgezurrt am Boot und an seiner entkräfteten Hand, das Skelet seines Fisches, ein riesiges Skelet - niemand hat je ein so grosses Skelett gesehen -, lauter blanke Knochen, nur der Kopf ist noch unversehrt.
Nur mein Kopf ist noch unversehrt. Ich kann denken. Nachdenken. Weiterdenken.
Ich sitze auf meinem Bänklein und blicke hinüber: die Häuserreihe auf der anderen Seite der Gasse. Das eine, milchigweiss getüncht, zwei Reihen Fenster mit stumpfbraunen Läden, allesamt geschlossen. Daran anschliessend, eine leuchtendgelbe Hauswand mit offenen, mohnroten Fensterläden, und daneben eine Wand, blau wie der Himmel über dem Dach, mit grünen Fensterläden, offen, wie die nebenan. Ich schaue und denke. Ich denke nach: das Haus mit der farblosen Mauern und geschlossenen Fenster, das ist passé, fertig, aus, zu.
Ich denke weiter: die farbigen Häuser, die offenen Fenster, das ist, was ich noch vor mir habe. Das ist das, wofür ich mir Raum schaffen muss, wofür ich mir eben Raum geschaffen habe zwischen den Seiten meines Büchleins, das ist das, was als einziges dem alten Mann geblieben ist. Immerhin, der Kopf, der bringt noch etwas ein.
Irgendwann, noch vor dem verheissungsvollem Fang und der grossen Enttäuschung, hat der alte Mann zu sich selber gesagt: "Jetzt ist der Moment, nur an das Eine zu denken: das wozu ich geboren bin." Das Wesentliche, das Ureigenste. Die bunte Hausmauer, mir gegenüber, die offenen Fenster.
Ich nehme all meinen Mut zusammen, steige hinunter ins Atelier, nehme Papier, Pinsel, Farbe, gelb, rot, blau und grün, und ich male die Häuserfront. Und, an einem der roten Fensterläden, da endet der rostbraune wollfaden, der den alten Mann die ganze Zeit über mit seinem Fisch - und mit meinem Leben - verbunden hat.
Hier endet die Geschichte vom alten Mann und dem Meer, hier endet die Geschichte von mir und dem Traum von einem grossen Fang.
Und das Buch? Es ist keineswegs geschlissen. Es ist prallvoll: die Geschichte, der Text, ist mehr als lebendig geworden; darin verwoben sind nun so viele eigene Erinnerungen, Gedanken, wünsche, Hoffnungen, Zuversicht...
Danke, old man.
Heide, Breno 2012

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